Konstruktive Nestbeschmutzung & Loyalitätskonflikte

Über die Diskriminierung von Lesben und Schwulen im Freien Radio Wüste Welle

In einer Broschüre soll die Diskriminierung von Lesben und Schwulen in der Wüsten Welle in der Zeit zwischen Sommer 1996 und Sommer 1997 dokumentiert werden. Ich wurde angefragt, ob ich für diese Broschüre einen Text beisteure. Meine Zusage einhaltend mache ich mich nun, Anfang März 1999, geraume Zeit nach den in Frage stehenden Vorkommnissen, ans Schreiben.

Der Zweck der Dokumentation ist, unsere Erfahrungen späteren Mitstreiter/innen zu vermitteln, damit nicht alle beim Punkt Null anfangen müssen. Und was mir heute, mit weiteren Erfahrungen als Frauenfrau im Freien Radio Wüste Welle, auch noch wichtig ist: welche aus ihren Erfahrungen (und das meint beides: die Fehler und die Richtigkeiten) nicht lernt, ist gezwungen, diese solange zu wiederholen, bis sie daraus lernt.

Ich schreibe diesen Text nicht, um Lesben und andere Frauen vor der Arbeit in der Wüsten Welle zu warnen oder gar sie davon abzuhalten. Die Entscheidung, in einem gemischten Projekt mitzuarbeiten, kann jede nur für sich treffen – aufgrund der vorgefundenen Bedingungen und ihrer eigenen Kräfte. Ich will meine Erfahrungen und meine(n) Entscheidungsprozess(e) in diesem Konflikt mitteilen, um Denkanstöße und Reibungsfläche für andere in vergleichbaren Konflikten zu bieten.

Ich arbeite heute noch beim Radio mit – das unterscheidet mich von denen, die gegangen sind, weil sie es nicht ausgehalten haben oder weil sie andere Prioritäten gesetzt haben. Fast verspüre ich an der Stelle so etwas wie den Drang, wortreich, umständlich und kompliziert zu rechtfertigen, warum ich mich anders entschieden habe. Aber welche Zumutung, erklären zu müssen, weshalb ich politisch arbeite! Jedenfalls nicht aus Masochismus und nicht aus politischer Dummheit, nicht aus Ignoranz oder mangelnder Sensibilität – sondern weil ich in diesem Projekt Menschen gefunden habe, mit denen ich gerne zusammen arbeite. Zusammen haben wir uns Bedingungen geschaffen (sie mir, ich ihnen, wir uns), unter denen wir es nicht nur aushalten, sondern die uns und unsere Ziele stärken.

Was das für Zusammenhänge sind, in denen wir uns gegenseitig stärken, will ich an drei Beispielen verständlicher, begreiflicher machen: an der (Sendungs-) Arbeit in der Sirene-Redaktion, an der Zusammenarbeit in der Vergangenheit mit Sabine als Frauenstellenfrau und an den Auseinandersetzungen mit André.

Erstens die Sirene-Redaktion als ein „Empowerment-Zusammenhang“

Die Sirene-Redaktion war der erste Zusammenhang, in dem ich mich radiomäßig organisiert habe (schon vor Sendestart) – nach einer anderthalbjährigen Radio-Pause aus politisch-privaten Gründen habe ich mich aber (nicht ganz unumwegig) zunächst über die Lauschangriff-Redaktion wieder ins Radio eingefädelt, später über die schwulen Menschen, die die Sendung ohne Titel (Untertitel: feministisch-lesbisch-schwule Kultur, Musik, Politik – oder so ähnlich jedenfalls…) gemacht haben. Bei Sirene habe ich anfangs so etwas wie Gastspiele gegeben. Die Frauengruppe Sirene-Redaktion war eine Art Hinterland für mich, Rückzugsgebiet für die sehr anstrengenden Auseinandersetzungen mit meinen schwulen Kollegen bei SoT. Bei Sirene habe ich erlebt, daß ich machen konnte, was mir wichtig ist. Daß die anderen Frauen mich dabei unterstützt haben, daß ich mir beispielsweise mehr als ein Jahr Zeit lassen konnte, bis ich mich getraut habe, selber Technik zu machen – so lange hat es immer eine möglich gemacht, mir die Technik für meine Sendungen zu fahren. Bei Sirene war es in Ordnung, daß wir verschieden sind, verschiedene Prioritäten setzen, verschiedene politische Präferenzen, verschiedene Interessen haben. Geeinigt hat uns ein grundsätzlich FrauenFrauensolidarisches Verhältnis untereinander, Unterstützung füreinander. Wir haben uns gegenseitig gestärkt und er-mächtigt, zu Eigen-Macht ermutigt.

Sirene war / ist für mich ein (Sende-)Platz und ein sozialer Zusammenhang, wo ich als Radiomacherin groß und stark geworden bin. Daß Frauen verschieden sind und verschieden sein dürfen, ist für uns selbstverständlich – insofern erheben wir auch keinen Monopolanspruch, der einzige Sendeplatz für Frauenfrauen zu sein. Unsere inhaltliche Spannweite von linksradikal bis spirituell, von lesbisch bis vergnüglich (was gewiß nicht als Gegensatz verstanden werden sollte!), von feministisch-a bis feministisch-z… scheint bisweilen ein schwieriger Drahtseilakt über verschiedene Abgründe hinweg – aber es funktioniert bis jetzt.

Zweitens die Zusammenarbeit mit Sabine als Frauenstellenfrau

Diese Zusammenarbeit gestaltete sich zunächst nicht einfach. Wir hatten ätzende Diskussionen aus meiner Zeit in der Lauschangriff-Redaktion hinter uns und wir waren Konkurrentinnen um die bezahlte Frauenstelle gewesen. Insofern war an Altlasten, die unsere Zusammenarbeit im Wortsinne belasten konnten, kein Mangel. Wir haben uns beide nicht davon beeindrucken lassen. Vielleicht war es Äther-Magie: die Sendung zur Wintersonnwende 1997, über die Frau Percht und die Rauhnächte, über scheinheilige verlogene Väterrechtsväter und über alte heidnisch-matriarchale Bräuche und mit viel spirituell angehauchter Musik… Sabine hat uns die Technik gefahren – da sind sich auf gleichsam magische Weise unsere verschiedenen Welten begegnet. Und seit dieser Sendung konnten wir auch sonst zusammenarbeiten. Ob es um FrauenFrauen-Einführungsworkshops ging oder um Lohnbuchhaltung, um die Betreuung der FrauenFrauen-Hour oder ums Kassettenkopieren, um die Vernetzung von Frauen im Radio oderoderoder… Wir haben nicht mehr darum konkurriert, welche sich am meisten fürs Radio opfert und auch nicht darum, welche von der anderen Unrecht erleidet. Wir haben uns auf einer sehr pragmatischen Ebene unterstützt, uns Kraft geliehen, um einen Teil von dem, was wir an feministischen Zielen und an Frauenförderungsansätzen im Kopf hatten, umsetzen zu können.

Während Sabines Zeit als bezahlter Frauenstellenfrau habe ich mich auch an anderer Stelle ins Radio organisatorisch eingefädelt, hab Aufgaben übernommen und in den verschiedensten Diskussionen meine Stimme erhoben. Der Faden zwischen uns, aus gegenseitiger Unterstützung und gegenseitiger Kritik (zu wissen, da ist noch eine andere Frau, auf die ich mich grundsätzlich verlassen kann), ist nicht mehr abgerissen. Wir haben uns ergänzt – in unseren Fähigkeiten, in Kontakten zu verschiedenen Frauen, und wohl auch in unserer verschiedenen Art, Radio zu machen.

Drittens – ja was eigentlich? – mit André

Ich nenn es mal unser Verhältnis, unsere Zusammenarbeit, unsere Diskussionen. Unsere Zusammenarbeit ist nicht nur ein Beispiel dafür, daß es was anderes geben kann zwischen Männern und Frauen als den bekannten / gewohnten (?) sexualisierten Kriegszustand – und ich bin glücklich, daß wir diese Erfahrung miteinander teilen. Unser Verhältnis ist auch ein Beispiel dafür, daß Bemühungen, andere nicht zu diskriminieren, sondern nachzufragen, um zu verstehen, was nützen können…

André und ich teilen eine bestimmte Art, ans Radiomachen dranzugehen, und gemeinsam haben wir auch, daß uns fasziniert, was da passiert. Zwischen den verschiedenen „Kästchen“ des Programms, zwischen denen die senden und ihren Inhalten untereinander. Es geht um sowas wie Begegnung, um achtsame, respektvolle Nachbarschaften und Übergaben, um die Auseinandersetzungen, die bei Senderinnen wie Hörerinnen etwas in Bewegung setzen, in den Köpfen und in dem, wie Menschen leben, was sie machen, wofür sie sich einsetzen und kämpfen. Äther-Magie eben. Vielleicht sollte ich es auch nicht Magie nennen – es sind soziale, Lern-, politische Prozesse – unter denen, die senden, sich miteinander auseinandersetzen, voneinander lernen, und diese Prozesse teilen sich auch denen „draußen an den Rundfunkempfängerinnen“ mit, die einschalten und zuhören und sich dadurch eben nicht nur in die Sendungen, sondern auch in diese Prozesse „einschalten“ (und gelegentlich auch wieder abschalten…)

Uns verbindet der Versuch, 150 Senderinnen unter einen Hut zu bringen, statt Tausende unter einen Stahlhelm. Eine bestimmte Art von Machtpolitik, von basisautoritärer Kontroletti-Mentalität verbietet sich da von selber. Es vertreibt den Geist dieses Radios, wenn eine Gruppe sich und ihre Richtlinien da durchzusetzen versucht – ob das nun zornige Feministinnen sind, linksradikale Info-Politik-Redaktörinnen oder schwul-lesbische Berufsopfer oder nochmal ganz wer anderes. Besserwisserisch Programmrichtlinien und -richtigkeiten durchsetzen funktioniert nicht, sondern macht die Chancen von Lern- und anderen sozialen Prozessen kaputt, und davon abgesehen wird auch das Programm wieder schwerer hörbar.

Von André habe ich gelernt – oder lerne es immer noch –, andere zu lassen. Nicht nur Frauen dürfen verschieden sein, wie ich das als die Grundhaltung von Sirene beschreiben würde, sondern Menschen überhaupt. Wichtig ist mir dabei Rücksicht, Respekt… – daß wir uns in diesem Laden Mühe geben, so miteinander umzugehen, daß andere, ihre Gefühle, ihre Grenzen…, nicht verletzt werden. Daß das immer wieder möglich ist, so verschieden wir, unsere Geschichten, unsere Haltungen, unsere Geschmäcker…, auch sind, grenzt für mich gelegentlich an ein Wunder. Und ist einer der Gründe, warum ich immer noch Radio mache.

Gemeinsam haben wir versucht, diesen „Geist“ zu beschwören – und uns vor den anderen Geistern zu schützen und sie wenn möglich zu bannen. Auch das ist „Äther“: sehr luftig, wenig haltbar, kaum von Dauer.

In dem ganzen Streit um Identitäten, und was eine Lesbe darf, und wer diskriminiert wird und warum – wurde es immer mehr so (oder hab ich es so wahrgenommen), daß André da war, nachgefragt hat, und sich Mühe gegeben hat, meinen Zorn und meine Kämpfe zu verstehen, und schließlich mich unterstützt hat, die zu sein, die ich bin und mich nicht am Urteil der anderen abzuarbeiten. Er hat mich ermutigt, mich einfach gar nicht zu definieren – was in unserem Verhältnis jetzt zwar so stimmt, aber insgesamt so wenig eine Lösung ist, wie wenn ich mich selber als „lesbisch“ oder als „bisexuell“ oder sonstwie definiere.

Viele Menschen verwechseln lesbisch mit „sexueller Orientierung“, vielleicht weil schwul oder heterosexuell sich meistens so definieren. Aber darum geht es mir nicht. Ich finde es tatsächlich nicht so wichtig, wie eine sich bezeichnet (von dem voyeuristischen Interesse, wer mit wem ins Bett geht, ganz zu schweigen!). Mir kommt es darauf an, was eine mit dieser Bezeichnung meint, welche Möglichkeit und Perspektive damit eröffnet wird. Ich meine die Chance für eine „Befreiungspolitik“, die in der grundsätzlichen Möglichkeit (für alle Frauen!) liegt, Frauen zu lieben, zu unterstützen, sich aufeinander zu beziehen… Diese Möglichkeit präsent zu halten, hörbar zu machen, dafür hab ich in den letzten zwei Jahren hauptsächlich Radio gemacht. Aber es ist anstrengend, sowas wie eine lesbische „Frontfrau“ zu sein, und es geht nicht immer. Es geht vor allem auf längere Sicht nur mit der Unterstützung von anderen und in einem offenen Raum – gerade den habe ich in diesem Radio an ganz unerwarteter Stelle gefunden, von Menschen, wo ich damit nicht gerechnet hätte. Solidarisches Interesse an mir, an meiner Person, an meiner Politik, an meinen Zielen, an dem, wie ich leben will…

In einer Dokumentation über die Diskriminierung von Lesben und Schwulen im Freien Radio Wüste Welle könnte ich es mir einfach machen, indem ich eine Liste veröffentliche, wo der Reihe nach steht, wer mir (und anderen) wann wie Unrecht getan hat. Eine Liste mit kränkenden, verletzenden Erfahrungen mit meinen KollegInnen der damaligen Lauschangriff-Redaktion, und der könnte ich ohne weiteres eine zweite Liste anhängen mit ebenso verletzenden Erfahrungen mit SoT-Kollegen.

Ich begnüge mich damit, festzuhalten, daß die Kollegen vom Lauschangriff sich mir gegenüber ignorant, frauenfeindlich, übergriffig verhalten haben. Ich wurde als Lesbe diskriminiert, und wenn ich gesagt habe, wie ich mich darin gefühlt habe, haben mir die anderen nicht geglaubt oder bestritten, daß es überhaupt sein kann, daß ich mich so fühle. Ihren eigenen politischen Ansprüchen haben sie keinesfalls entsprochen – und ich hatte nicht die Kraft dazu, noch sehe ich das als die Aufgabe von Lesben und anderen Frauen an, das zu ändern. Ändern können das die Kollegen selbst, wenn sie wollen – ein Interesse daran hat mir aber keiner von ihnen jemals signalisiert. Ich habe daraus die Konsequenzen gezogen und bin gegangen.

Aber auch in der SoT waren unsere Auseinandersetzungen vom üblichen Kriegszustand zwischen Männern und Frauen geprägt. Mit äußerst ungünstigen „Mehrheitsverhältnissen“ für mich. Jede potentielle Kollegin, die in der Sendung hätte mitarbeiten können, war den Kollegen „nicht lesbisch genug“ – womit sie systematisch verhindert haben, daß ich so arbeiten konnte, wie ich es einer Lesbe angemessen gefunden hätte, nämlich solidarisch mit anderen Frauen. Dieses „nicht lesbisch genug“ schwebte auch über mir als Rausschmißdrohung, unsichtbares Damoklesschwert – und dieses Mittel, mich gefügig zu halten, hat damals funktioniert. Irgendwann habe ich mich der Definitionsgewalt dieser Kollegen entzogen und mich geweigert, weiterhin als lesbische Front- und Alibi-Frau für eine schwul-lesbische Sendung zu fungieren. Ich habe mich vollends der Sirene-Redaktion angeschlossen und die Kollegen haben kurze Zeit später aufgehört zu senden.

Aufzurechnen und Erbsen zu zählen, wer wem wann Unrecht getan hat und welche das Recht hat, sich verletzt, diskriminiert, ungerecht behandelt zu fühlen, ist ziemlich ermüdend. Es ennuiert mich – ich mag mich nicht als Opfer verewigen… Und auch die Rechnung, welche Auseinandersetzungen mir mehr zugesetzt haben, was mich mehr Kraft gekostet hat, was wird damit bewiesen? Daß die anderen noch schlimmer sind als die einen?

Ich will meinen eigenen Beitrag dazu dokumentieren, was ich selber dafür getan habe, es anderen zu ermöglichen, mich zu diskriminieren, zu verletzen…: Menschen sind soziale Wesen, die tun, was von ihnen erwartet wird. Es ist also nicht weiter verwunderlich, daß sie Lesben und Schwule diskriminieren. Es wird einfach von ihnen erwartet; das steckt so tief im Denken und Handeln einer zwangsheterosexuellen Gesellschaft drin, daß es schon guter Gründe und erheblicher Mühe bedarf, bewußtseinsbildender und sensibilisierender Arbeit, wenn eine/r sich diesem gleichsam bereitliegenden Muster, wie mit sogenannten Minderheiten umgegangen wird, widersetzen und entziehen will. Diskriminierung ist so allgegenwärtig, daß es nicht weiter überrascht, wenn sie auch in Zusammenhängen wie der WW „passiert“, obwohl die WW eigentlich mit einem anderen Anspruch auftritt.

„Wir“ haben von unseren heterosexuell veranlagten Kolleginnen und Kollegen erwartet, daß sie uns diskriminieren. Von heute aus gesehen behaupte ich, daß diese Erwartung einen wesentlichen systemstabilisierenden Effekt hatte und geholfen hat, die diskriminierenden Muster zu verschärfen. Ausdrücklich nicht sagen möchte ich damit, daß wir Diskriminierung durch unsere Erwartungen verursacht haben – wir sind nicht ursächlich für sie verantwortlich! Wir sind überhaupt nicht verantwortlich für das Denken und Handeln anderer Menschen, sondern bloß für unser eigenes. Wir sind auch nicht verantwortlich für die Reaktionen anderer auf unser Verhalten. Der Umkehrschluß gilt auch nicht unbedingt: würden wir (ernsthaft!) von unseren Mitmenschen und -männern erwarten, daß sie uns nicht diskriminieren, so ist keineswegs gesagt, daß wir mit dieser Erwartung nicht enttäuscht würden…

Welche Frau hier ist in ihre eigene Unterdrückung, ihren Status als Unterdrückte, so verliebt, daß sie den Abdruck ihres Absatzes im Gesicht einer anderen Frau nicht zu sehen vermag? Welcher Frau hier ist die Art ihrer Unterdrückung so ans Herz gewachsen, daß sie sie – weitab vom kalten Wind der Selbsterkenntnis – als Eintrittskarte in den Club der Gerechten braucht?
(Audre Lorde: Vom Nutzen unseres Ärgers, 1981)

Gefangen in einer Struktur, in der wir unsere Opferidentität zur Basis unserer Politik zu machen versucht haben, konnten wir uns nicht mehr angemessen wehren. Wir haben versucht, sowas wie Pluspunkte zu sammeln, akkumulierte Unterdrückung, die uns berechtigen sollte, gewissermaßen zur Entschädigung von nun an die lesbisch-schwule Sittenpolizei im Radio zu sein, die die Richtlinien dafür ausgibt, was gesendet, was gesagt werden darf.

Es wäre selbstkritischer Aufarbeitung wert, zu analysieren, wie wir versucht haben, die uns angetane Diskriminierung in eine „Währung“ umzurechnen, mit der fortan wir bestimmen können, was gesagt werden darf im Radio und wer sich wie benehmen darf. Das ist wahrscheinlich auch nicht besser als die linksradikale, von jeglicher Fähigkeit zur Selbstkritik weit entfernte Wir sind die Guten-Attitüde.

Gefangen in einem Muster, wo es nur um Sieg oder Niederlage geht, um „richtig“ oder „falsch“, und darum, die eigene Position durchzusetzen, endet das Ganze regelmäßig mit dem Abbruch der Kommunikation. Da bleibt nur noch, zu gehen, sich jeglicher Auseinandersetzung zu entziehen.

Ich halte es auch im Nachhinein immer noch für die richtige Entscheidung, die Lauschangriff-Redaktion verlassen zu haben und auch die Zusammenarbeit mit den Kollegen der SoT aufgekündigt zu haben. Im Radio sehe und höre ich aber noch eine andere Chance. Unser Medienbetrieb funktioniert nicht nach dieser Entweder-Oder-Logik, sondern spannend wird es erst jenseits davon. Spannend wird es da, wo die Auseinandersetzungen stattfinden. Die Chance liegt da, wo Senderinnen sich gegenseitig füreinander interessieren, nachfragen, diskutieren, sich gemeinsam auf die Reihe kriegen – und dabei erfahren, daß die Mühe der Auseinandersetzung lohnt. An Erziehungsdiktaturen besteht dann kein Bedarf mehr.

Dieses Muster einmal durchbrochen zu haben, einmal andere Erfahrungen gemacht zu haben, dem Zauber des kommunikativen Mediums Radio (und von Menschen, die sich daran beteiligen) verfallen zu sein – das läßt mich nicht mehr los. Es könnte ein Anfang sein. Daran möchte ich weitermachen – in diesem Sinne…

Tübingen, den 8. März 1999